Die Empfehlung, Kälber in den ersten Lebenswochen nicht mehr restriktiv, sondern ad libitum mit Milch zu versorgen, hat mehrere Gründe. Der bekannteste ist, dass diese Kälber ein besseres Gesundheitspotential im Vergleich zu Kälbern besitzen, die nur zwei Mal am Tag mit einer begrenzten Menge Milch, zum Beispiel 2 x 3 Liter, ernährt werden.
Energie wird nicht nur für Erhaltung und Wachstum, sondern in nicht unerheblichem Maß auch für die Arbeit des Immunsystems benötigt. Die durch Mangel bedingten negativen Folgen reichen häufig bis in das Erwachsenenalter. Ein weiterer gewichtiger Grund ist, je weniger Milch den Kälbern angeboten wird, desto stärker hungern diese Tiere in den ersten Lebenswochen, denn über andere Futtermittel können sie diesen Hunger noch nicht kompensieren und das bedeutet zusätzlich Stress. Ein weiterer Grund ist, dass Kälber, die in den ersten Lebenswochen ad libitum getränkte werden, in ihrem späteren Leben eine bessere Leistungsbereitschaft besitzen als restriktiv getränkte Kälber. Das können höhere Zunahmen und/oder eine höhere Milchleistung sein.
Das Immunsystem benötigt Energie
In der Kälberaufzucht wird häufig nicht bedacht, dass die Arbeit des Immunsystems im Bedarfsfall sehr viel Energie benötigt. Diese Energiemenge steht bei restriktiv aufgezogenen Kälbern, je nach Infektionsdruck, nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung. Die Folge ist, dass es sehr früh zu Erkrankungen kommen kann. Es sollte darum ein absolutes Tabu sein, Kälber in den ersten Lebenswochen nicht satt mit Milch zu ernähren. Während dieser Zeit ist eine Kompensation der Energiegewinnung über feste Futtermittel noch nicht möglich. Es ist darum auch unverständlich, wenn entsprechende Tränkepläne für die Kälberaufzucht in Milchviehbetrieben aktuell immer noch als alternative Tränkemethoden neben der Ad-libitum-Tränke veröffentlicht werden.
Auswirkungen einer Unterversorgung
Welche Auswirkungen eine Unterversorgung mit Energie haben kann, zeigt ein Versuch mit Labormäusen von Barry et al. (2008). In diesem Versuch wurden ad libitum und restriktiv versorgte Mäuse mit Influenzaviren infiziert. Bis zum achten Lebenstag sank die Überlebensrate bei den ad libitum ernährten Mäusen auf 60 Prozent, bei den restriktiv ernährten auf unter 30 Prozent. Ebenfalls wurde bei diesen Mäusen die durch die Influenza-Infektion ausgelöste Zytotoxizität von NK-Zellen (natural killer cells) gemessen. NK-Zellen gehören zu den weißen Blutkörperchen und damit zum Immunsystem des Körpers. Der Begriff Zytotoxizität beschreibt die Fähigkeit dieser Abwehrzellen (NK-Zellen), fremde Zellen bzw. von Erregern befallene Körperzellen und damit auch die Erreger zu zerstören. Diese Zytotoxizität wurde bei den Mäusen beider Gruppen während der Influenza-Infektion gemessen und lag bei den ad libitum ernährten Mäusen um ein Vielfaches über der Aktivität der NK-Zellen bei den restriktiv ernährten Mäusen. Dadurch wurde deutlich weniger Lungengewebe bei den ad libitum ernährten Mäusen zerstört
Auszug aus dem Artikel „Warum Kälber in den ersten Lebenswochen ad libitum getränkt werden sollen“ von Dr. Hans-Jürgen Kunz, Institut für Tierzucht und Tierhaltung, Christian-Albrechts-Universität Kiel; Fleckvieh-Austria-Magazin 6/2021